Bedrohlich trieb der Novemberwind in heftigen Böen die dunklen, tiefhängenden Wolkenmeere vor sich her. Die Kälte schlich verstohlen zwischen jeder Fensterritze und jedem Riss im Mauerwerk von draußen ins wohlig warme Wohnzimmer, um sich kühlend auf den alten Dielenboden zu legen.
Herr Benjamin Ficus, aus der Familie der Maulbeergewächse, wohnhaft im Birkenfeigenweg, betrachtete das herbstliche Treiben von seiner linken Ecke aus, neben dem großen Fenster. Die Heizung ließ das warme Wasser zwischen ihre Rippen strömen und ein warmer Hauch erinnerte Herrn Benjamin Ficus an den Frühling. Er versuchte seine Zweige zu strecken und jungem Laub an den Spitzen seiner Triebe neues Leben zu schenken, aber die Erinnerung an den Frühling reichte nicht. Mit Blindheit geschlagen, merkte er, dass ihn all seine Mühe in einen Strudel aus Erschöpfung gleiten ließ. Keine Kraft. Keine Energie. Kein Licht.
Begonnen hatte es damals, als die Tage noch schön warm waren, aber die Sonne bereits aus dem Zenit floh. Ihre goldenen Strahlen durchdrangen seltener das große Fenster, weil das große Haus gegenüber das güldene Lebenselixier verschluckte. Es war ein Wandel, den Herr Benjamin Ficus durchaus wahrnahm, jedoch nicht wahr haben wollte. Immerhin, gab es wie immer jede Woche ein Festmahl: Stickstoff an Phosphor und Kalium, angerichtet mit einer Prise Magnesium und Eisen, abgerundet mit etwas Kalzium, Molybdän und Bor. Wer sollte sich bei dieser Verpflegung bitte Sorgen um etwas weniger Licht machen? Zu trinken gab es schließlich auch genügend und insgesamt fühlte sich Herr Benjamin Ficus durchaus gesund und stark.
Hatte er zuvor stets das Gefühl gehabt, die Unendlichkeit durchströme seinen pflanzlichen Körper, so stellte er verblüfft fest, dass es jeden Tag mehr Anstrengung kostete, das anorganische Festmahl in leckere organische Substanz umzuwandeln. Sein Herzschlag, die Photosynthese, verlangsamte sich, schlug nur noch unregelmäßig und von Tag zu Tag schwächer. Trotzig, der Wahrheit ins Gesicht spuckend, stellte er sich mit all seiner Macht dem drohenden Unheil entgegen. Sparsam, wie es seine Art war, hatte er sich ein kleines Nährstoffpolster zugelegt. So zapfte er seine Reserven, eingelagert in seinen Stämmen und Zweigen, an und glich, zunächst sehr erfolgreich, den verminderten Stoffaufbau aus. In der vagen Hoffnung, die Zeit möge schneller vergehen, sehnte sich Herr Benjamin Ficus den Frühling herbei. Doch die Tage wurden immer kürzer und seine Freundin, die Sonne, wurde zunehmend vom diesigen Gevatter Herbst und seinen Wolkenheeren verdeckt. Herr Benjamin Ficus blieb keine andere Wahl, als sich von einigen Laubblättern zu verabschieden. Lange genug haben diese an seiner Kraft gezerrt. Mit sturer Verbissenheit zog er den energiereichen Pflanzensaft aus den unteren, wie auch den lichtabgewandten Blättern, ließ sie vergilben und abfallen. Mit dem Gefühl der wohligen Wärme, die von der Heizung strahlte, schien der Frühling nicht mehr weit entfernt zu sein.
Während Herr Benjamin Ficus noch seinen Gedanken nach hing, merkte er plötzlich, dass seine Wurzeln in einer Pfütze standen. Pfütze, nein in einem morastigen See, der unauffällig seinen faulen Duft im Zimmer verströmte. Ja klar, Photosynthese konnte er ja seit einiger Zeit nicht mehr optimal betreiben, sodass er natürlicherweise weniger Wasser verbrauchte. Der Abbau des Chlorophylls aus dem Laub, sowie der Nährstoffeinlagerung aus den Zweigen, verbraucht auch kaum Wasser, weil sie ihm bereits in gelöster Form zur Verfügung stehen. Jetzt weniger Wasser benötigen, aber genauso viel bekommen wie an den schönen, sonnigen Tagen, das scheint der Grund zu sein, weshalb ihm die Füße abfaulen. Gleichzeitig diese frühlingshafte Heizungswärme und der regelmäßige Festschmaus, welche ihn verleiten wachsen zu wollen, aber nicht zu können. In Tristesse gefangen schaute sich Herr Benjamin Ficus um. Das Zimmer war hell erleuchtet, aber er spürte kein Prickeln auf seinem spärlichen Laub. Ein kalter Regenbogen, der dem grellen Mittelpunkt der Zimmerdecke entsprang, umhüllte seinen gebeutelten Pflanzenkörper. Ein buntes Farbenmeer umschwirrte ihn, doch es wird nicht hell, nicht warm, es war totes Licht.
Herr Benjamin Ficus dachte noch…
…es zwitschert ein Vogel.
Überrascht blinzelt er, von seiner linken Ecke aus, durch das große Fenster ins grelle Sonnenlicht. Da ist sie, Freundin Sonne, die lächelnd die ersten Strahlen in den nahenden Frühling entsendet. Er spürt wie es beginnt in ihm zu pulsieren und neues Leben aus seinem knochigen Holz entspringt. Das Ende der dunklen Zeiten.
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Jens ist leitender Berliner Pflanzendoktor, Pflanzenschutzexperte beim Deutschen Bauernverlag (Gartenflora), Gastdozent an der Königlichen Gartenakademie
1 Kommentar
Die Geschichte ist richtig rührend…wunderschön geschrieben.
Auch Pflanzen fühlen…♥